Zuletzt aktualisiert am 5. April 2022 um 12:32

Digital Detox – also „digitale Entschlackung“ – kommt langsam immer mehr ins Gespräch. Und das nicht ohne Grund! Immer mehr Leute werden zu Opfern und Gefangenen ihrer digitalen Begleiter. Sehr oft schleichend und unbemerkt. Ich auch.

Kurzer Blick in die Vergangenheit

Samstag Nachmittag – das gleiche Ritual wie jeden Samstag. Wir treffen uns vor unserem Stammkaffeehaus in Hof, pünktlich um 16:00. Zumeist waren wir 15 bis 25 Jugendliche. Handys gab es noch nicht und so war es wichtig, dass man einen fixen Zeitpunkt in der Woche hatte, zu dem man sich getroffen hat. Denn auch das Telefonieren übers Festnetz war für uns keine Selbstverständlichkeit, denn – so zumindest haben meine Eltern das immer begründet – das wäre viel zu teuer, um „dauernd herumzutelefonieren“.

Internet gab es damals auch noch nicht. Kurz per Mail eine Verspätung anzukündigen oder zu erfragen, wo es dieses Wochenende hingehen soll, war also auch nicht möglich. Wer zu dem Zeitpunkt am Samstag nicht aufgeschlagen hat, der hat potenziell auch sein komplettes Wochenende vergeigt und konnte es allein Zuhause verbringen, während die anderen unterwegs waren, um „Hasen aufzureißen“. Denn zu diesem Fixtermin wurde auch ausgeschnapst, wo es hingehen soll.

Horst mit Freunden um 1985
Horst (ganz links) mit Freunden um 1985

Und so war es mehr oder weniger logisch, dass man – wenn es nur irgendwie möglich war – samstags um 16:00 zur großen Runde von Leuten hinzugestoßen ist, um bei einer handylosen Unterhaltung eine „Fetzngaudi“ zu haben.

Zurück in die Gegenwart

Vier Jugendliche stehen im Kreis und starren auf ihre Smartphones. Hin- und wieder blickt einer kurz auf, stupst den anderen neben ihm an und deutet auf sein Handy. Beide lachen kurz auf und wischen weiter auf ihren Displays herum.

Nummer fünf wird bald zu ihnen stoßen. Hoffentlich. Denn Nummer fünf simst noch schnell während des Fahrens, dass er um drei Minuten später kommen wird. Nummer fünf schafft es zum Glück, nachdem er beim Abbiegen fast einen Mopedfahrer abgeschossen hätte …

So ist das aber wirklich nicht!

Ja, klar, die obige Story zur Gegenwart ist frei erfunden und ich habe sie bewusst etwas überspitzt dargestellt. Aber ich wage fast zu behaupten, dass es so oder so ähnlich sicher schon passiert sein wird.

Ich behaupte an dieser Stelle nicht, dass sich alle so verhalten. Aber ich sehe immer öfter Leute an einem Tisch sitzen, die anstatt sich mit dem Gegenüber zu unterhalten, auf ihr Handy starren. Und es sind nicht nur Jugendliche, denn mittlerweile hat auch ein Großteil der älteren Generation „gelernt“, mit Smartphones umzugehen. Also nein, das ist kein „Jugendlichen-Bashing“, ich spreche hier ganz bewusst alle Generationen an.

Das Opfer, welches wir bringen

Immer mehr bleibt dabei der „echte“ soziale Kontakt auf der Strecke. Mit Augenkontakt und voller Konzentration auf unser Gegenüber. Die Mimik und das Lächeln in Reaktion auf das Gesagte wirklich bewusst wahrzunehmen. Das Lesen zwischen den Zeilen. Mit all den damit verbundenen Gefühlen von sozialer Nähe. In die Gefühlswelt des anderen einzutauchen und ihn oder sie als Mensch wahrzunehmen.

Stattdessen führen wir „Goldfisch-Gespräche“, wie ich es mittlerweile nenne. Mit einer Aufmerksamkeitsspanne von weniger als 8 Sekunden. Dann gleiten unsere Gedanken schon wieder ab, weil uns gerade durch den Kopf geschossen ist, dass wir ja noch gar nicht nachgesehen haben, ob unser Tweet gut angekommen ist. Oder das gerade vorhin gepostete Foto im Instagram Account vom Restaurant, in dem wir den Menschen getroffen haben, dem wir gerade in diesem Moment wieder die Aufmerksamkeit entzogen haben.

Und sollten wir es tatsächlich schaffen, unser Gegenüber etwas länger wahrzunehmen, dann vibriert es schon wieder in der Hose oder zumeist direkt am Tisch. Am Tisch sieht man ja auch viel besser, wenn man eine neue WhatsApp bekommt und kann so aus dem Augenwinkel heraus schon erkennen, ob man kurz antworten „muss“.

„Entschuldigung, was hast du gerade gesagt?“.

Das ist in meinen Augen mehr als unhöflich. Immerhin hat sich der Gesprächspartner extra Zeit für dich genommen. Und Zeit ist ein ungemein wertvolles Gut.

Rückzug aus der digitalen Welt als Lösung?

Es ist wohl alles andere als leicht bis nahezu unmöglich, sich völlig aus der digitalen Welt zurückzuziehen. Denn schließlich erwartet der Chat-Partner am anderen Ende der Leitung ja auch, dass man umgehend reagiert und sich ihm widmet. Und wer zu oft durch Nicht-Reagieren glänzt, wird eben in Zukunft weniger angepingt. So einfach ist das.

So ähnlich, wie bei unserem damaligen Fixtermin am Samstag um 16:00. Wer da nicht zur Stelle war, war raus aus dem Spiel. Aber das war nur einmal in der Woche. Heute ist das im Schnitt wohl 10-20x in der Stunde.

Dieses ständige bereit sein müssen, dieses ständig auf das vibrierende Handy reagieren zu müssen, das macht etwas mit uns. Nicht nur mit unseren Gesprächspartnern, von denen wir erwarten, dass sie Spaß an einer Unterhaltung mit einem Goldfisch haben.

Es lässt unser Gehirn einfach nicht mehr zur Ruhe kommen. Ruhepausen und Entspannung waren gestern. Und so reagieren wir immer gereizter, schreiben Hasspostings in unserem Blog oder führen gar einen „Mittelfinger-Mittwoch“ ein, um unsere aufgestauten Aggressionen regelmäßig abbauen zu können.

Digital Detox – digitale Entschlackung

Der komplette Rückzug wird nicht klappen, aber der muss aus meiner Sicht auch nicht sein. Aber sich einmal selbst bewusst zu beobachten, wie oft man das Handy zur Hand nimmt, nur um kurz nachzusehen „ob etwas passiert ist“. Oder vor den PC zu laufen, um schnell ein paar Gedanken zum Blog niederzuschreiben, weil man befürchtet, diese später vergessen zu haben.

Mea culpa. Und ja, ich lasse mich oft auch in eine Art Strudel reißen, aus dem ich dann nicht mehr so schnell herauskomme. Ich verbeiße mich in ein Thema, welches mich dann teilweise auch nicht mehr schlafen lässt. FAIL!

Wenn man einmal weiß, wie oft und in welchen Situationen man das Handy kurz checkt oder sich in einer Art digitalen Sucht befindet, dann kann man jede dieser Situationen überdenken. Was kann ich weglassen? Nicht alles ist so wichtig, als es im ersten Augenblick vielleicht erscheinen mag. Muss ich wirklich dieses geniale Frühstück unbedingt fotografieren, um es dann in allen sozialen Medien zu sharen? Oder meinen Wanderschuh auf jedem Gipfel der Erde ablichten, den ich jemals bestiegen habe um dann in der Facebook-Gruppe „Bergsüchtig“ zu teilen (wo dann heiß drüber diskutiert wird, ob es denn wirklich sein muss, dass immer ein Fuß auf einem Bergfoto drauf sein muss).

Muss es auf jedem Berg ein Selfie (mit hochrotem Kopf und verschwitzt) von mir geben (na gut, kann  man ja), aber muss ich dieses dann wirklich auch noch gleich in allen sozialen Medien sharen, nur um dann die nächsten zwei Stunden regelmäßig die Reaktionen darauf zu beobachten? Nein, das muss man nicht wirklich!

Digital Detox - ich will kein Goldfisch sein
Digital Detox – ich will kein Goldfisch sein

Nein – ich will kein Goldfisch sein!

Karoline Mohren hat gleich ihren gesamten Blog dem Digital Detox gewidmet. Der Digital-Detox-Blog | Karoline Mohren – Mein Herz schlägt analog!

Mein Aufruf

Gehe mit anderen Menschen wieder bewusster um und schenke ihnen die Aufmerksamkeit, die sie verdienen! Krame nicht alle 2 Minuten dein Handy hervor, ob es etwas Neues und potenziell wichtigeres als das Gegenüber gibt. In dem Augenblick gibt es nichts Wichtigeres! Und sollte das doch ausnahmsweise einmal der Fall sein (du musst jemanden vom Flughafen abholen oder was auch immer), dann sage das deinem Gegenüber. Und dann genieße wieder die Zeit, die du mit diesem Menschen verbringen darfst!

Welche Erfahrungen hast du denn gemacht? Bist du selber ein Goldfisch oder hast du schon öfter einmal mit einem gesprochen? Das würde mich sehr interessieren! Bitte schreibe mir deine Erfahrungen in einen Kommentar – das würde mich sehr freuen.

P.S.: Und? Hat dein Handy vibriert, während du den Artikel gelesen hast?

Du willst noch mehr? Dann kannst du dir noch Digital Detox vs. Digital Botox reinziehen.