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Digital Detox – also „digitale Entschlackung“ – kommt langsam immer mehr ins Gespräch. Und das nicht ohne Grund! Immer mehr Leute werden zu Opfern und Gefangenen ihrer digitalen Begleiter. Sehr oft schleichend und unbemerkt. Ich auch.
Kurzer Blick in die Vergangenheit
Samstag Nachmittag – das gleiche Ritual wie jeden Samstag. Wir treffen uns vor unserem Stammkaffeehaus in Hof, pünktlich um 16:00. Zumeist waren wir 15 bis 25 Jugendliche. Handys gab es noch nicht und so war es wichtig, dass man einen fixen Zeitpunkt in der Woche hatte, zu dem man sich getroffen hat. Denn auch das Telefonieren übers Festnetz war für uns keine Selbstverständlichkeit, denn – so zumindest haben meine Eltern das immer begründet – das wäre viel zu teuer, um „dauernd herum zu telefonieren“.
Internet gab es damals auch noch nicht. Kurz per Mail eine Verspätung anzukündigen oder zu erfragen, wo es dieses Wochenende hingehen soll, war also auch nicht möglich. Wer zu dem Zeitpunkt am Samstag nicht aufgeschlagen hat, der hat potentiell auch sein komplettes Wochenende vergeigt und konnte es allein Zuhause verbringen, während die anderen unterwegs waren, um „Hasen aufzureißen“. Denn zu diesem Fixtermin wurde auch ausgeschnapst, wo es hingehen soll.

Und so war es mehr oder weniger logisch, dass man – wenn es nur irgendwie möglich war – samstags um 16:00 zur großen Runde von Leuten hinzugestoßen ist, um bei einer handylosen Unterhaltung eine „Fetzngaudi“ zu haben.
Zurück in die Gegenwart
Vier Jugendliche stehen im Kreis und starren auf ihre Smartphones. Hin- und wieder blickt einer kurz auf, stupst den anderen neben ihm an und deutet auf sein Handy. Beide lachen kurz auf und wischen weiter auf ihren Displays herum.
Nummer fünf wird bald zu ihnen stoßen. Hoffentlich. Denn Nummer fünf simst noch schnell während des Fahrens, dass er um drei Minuten später kommen wird. Nummer fünf schafft es zum Glück, nachdem er beim Abbiegen fast einen Mopedfahrer abgeschossen hätte …
So ist das aber wirklich nicht!
Ja, klar, die obige Story zur Gegenwart ist frei erfunden und ich habe sie bewusst etwas überspitzt dargestellt. Aber ich wage fast zu behaupten, dass es so oder so ähnlich sicher schon passiert sein wird.
Ich behaupte an dieser Stelle nicht, dass sich alle so verhalten. Aber ich sehe immer öfter Leute an einem Tisch sitzen, die anstatt sich mit dem Gegenüber zu unterhalten, auf ihr Handy starren. Und es sind nicht nur Jugendliche, denn mittlerweile hat auch ein Großteil der älteren Generation „gelernt“, mit Smartphones umzugehen. Also nein, das ist kein „Jugendlichen-Bashing“, ich spreche hier ganz bewusst alle Generationen an.
Das Opfer, welches wir bringen
Immer mehr bleibt dabei der „echte“ soziale Kontakt auf der Strecke. Mit Augenkontakt und voller Konzentration auf unser Gegenüber. Die Mimik und das Lächeln in Reaktion auf das Gesagte wirklich bewusst wahrzunehmen. Das Lesen zwischen den Zeilen. Mit all den damit verbundenen Gefühlen von sozialer Nähe. In die Gefühlswelt des anderen einzutauchen und ihn oder sie als Mensch wahrzunehmen.
Stattdessen führen wir „Goldfisch-Gespräche“, wie ich es mittlerweile nenne. Mit einer Aufmerksamkeitsspanne von weniger als 8 Sekunden. Dann gleiten unsere Gedanken schon wieder ab, weil uns gerade durch den Kopf geschossen ist, dass wir ja noch gar nicht nachgesehen haben, ob unser Tweet gut angekommen ist. Oder das gerade vorhin gepostete Foto im Instagram Account vom Restaurant, in dem wir den Menschen getroffen haben, dem wir gerade in diesem Moment wieder die Aufmerksamkeit entzogen haben.
In unserer digitalen Welt führen wir häufig nur noch 'Goldfisch-Gespräche'. @digitalDetoxes Klick um zu TweetenUnd sollten wir es tatsächlich schaffen, unser Gegenüber etwas länger wahrzunehmen, dann vibriert es schon wieder in der Hose oder zumeist direkt am Tisch. Am Tisch sieht man ja auch viel besser, wenn man eine neue WhatsApp bekommt und kann so aus dem Augenwinkel heraus schon erkennen, ob man kurz antworten „muss“.
„Entschuldigung, was hast du gerade gesagt?“.
Das ist in meinen Augen mehr als unhöflich. Immerhin hat sich der Gesprächspartner extra Zeit für dich genommen. Und Zeit ist ein ungemein wertvolles Gut.
Rückzug aus der digitalen Welt als Lösung?
Es ist wohl alles andere als leicht bis nahezu unmöglich, sich völlig aus der digitalen Welt zurückzuziehen. Denn schließlich erwartet der Chat-Partner am anderen Ende der Leitung ja auch, dass man umgehend reagiert und sich ihm widmet. Und wer zu oft durch Nicht-Reagieren glänzt, wird eben in Zukunft weniger angepingt. So einfach ist das.
So ähnlich, wie bei unserem damaligen Fixtermin am Samstag um 16:00. Wer da nicht zur Stelle war, war raus aus dem Spiel. Aber das war nur einmal in der Woche. Heute ist das im Schnitt wohl 10-20x in der Stunde.
Dieses ständige bereit sein müssen, dieses ständig auf das vibrierende Handy reagieren zu müssen, das macht etwas mit uns. Nicht nur mit unseren Gesprächspartnern, von denen wir erwarten, dass sie Spaß an einer Unterhaltung mit einem Goldfisch haben.
Es lässt unser Gehirn einfach nicht mehr zur Ruhe kommen. Ruhepausen und Entspannung waren gestern. Und so reagieren wir immer gereizter, schreiben Hasspostings in unserem Blog oder führen gar einen „Mittelfinger-Mittwoch“ ein, um unsere aufgestauten Aggressionen regelmäßig abbauen zu können.
Digital Detox – digitale Entschlackung
Der komplette Rückzug wird nicht klappen, aber der muss aus meiner Sicht auch nicht sein. Aber sich einmal selbst bewusst zu beobachten, wie oft man das Handy zur Hand nimmt, nur um kurz nachzusehen „ob etwas passiert ist“. Oder vor den PC zu laufen, um schnell ein paar Gedanken zum Blog niederzuschreiben, weil man befürchtet, diese später vergessen zu haben.
Mea culpa. Und ja, ich lasse mich oft auch in eine Art Strudel reißen, aus dem ich dann nicht mehr so schnell herauskomme. Ich verbeiße mich in ein Thema, welches mich dann teilweise auch nicht mehr schlafen lässt. FAIL!
Wenn man einmal weiß, wie oft und in welchen Situationen man das Handy kurz checkt oder sich in einer Art digitalen Sucht befindet, dann kann man jede dieser Situationen überdenken. Was kann ich weglassen? Nicht alles ist so wichtig, als es im ersten Augenblick vielleicht erscheinen mag. Muss ich wirklich dieses geniale Frühstück unbedingt fotografieren, um es dann in allen sozialen Medien zu sharen? Oder meinen Wanderschuh auf jedem Gipfel der Erde ablichten, den ich jemals bestiegen habe um dann in der Facebook Gruppe „Bergsüchtig“ zu teilen (wo dann heiß drüber diskutiert wird, ob es denn wirklich sein muss, dass immer ein Fuß auf einem Bergfoto drauf sein muss).
Muss es auf jedem Berg ein Selfie (mit hochrotem Kopf und verschwitzt 😉 ) von mir geben (na gut, kann man ja), aber muss ich dieses dann wirklich auch noch gleich in allen sozialen Medien sharen, nur um dann die nächsten zwei Stunden regelmäßig die Reaktionen darauf zu beobachten? Nein, das muss man nicht wirklich!

Nein – ich will kein Goldfisch sein!
Lisa hat sich in ihrem Blog Glücksmädl auch schon mehr als einmal Gedanken zu diesem Thema gemacht: Einsiedler vs. Social Media Wahnsinn und Hello again – Glücksmädl ist zurück aus dem Offline Modus. Sehr lesenswert!
Und Karoline Mohren hat gleich ihren gesamten Blog dem Digital Detox gewidmet. Der Digital-Detox-Blog | Karoline Mohren – Mein Herz schlägt analag!
Mein Aufruf
Gehe mit anderen Menschen wieder bewusster um und schenke ihnen die Aufmerksamkeit, die sie verdienen! Krame nicht alle 2 Minuten dein Handy hervor, ob es etwas Neues und potentiell Wichtigeres als das Gegenüber gibt. In dem Augenblick gibt es nichts Wichtigeres! Und sollte das doch ausnahmsweise einmal der Fall sein (du musst jemanden vom Flughafen abholen oder was auch immer), dann sage das deinem Gegenüber. Und dann genieße wieder die Zeit, die du mit diesem Menschen verbringen darfst!
Welche Erfahrungen hast du denn gemacht? Bist du selber ein Goldfisch oder hast du schon öfter einmal mit einem gesprochen? Das würde mich sehr interessieren! Bitte schreibe mir deine Erfahrungen in einen Kommentar – das würde mich sehr freuen.
P.S.: Und? Hat deine Handy vibriert, während du den Artikel gelesen hast?
Kommentare
10 KommentareJulie
Dez 23, 2017Hallo Horst,
das hast du wirklich sehr gut auf den Punkt gebracht!
Ein richtig guter Beitrag! Ich übe mich noch in „digital detox“ und lese auch gerade ein Buch zu diesem echt spannenden Thema. Gerade als Bloggerin fällt es mir nämlich nicht so leicht, das richtige Maß zu finden und ertappe mich leider immer wieder dabei, viel zu oft und viel online zu sein. Wenn mich mein Mann dann darauf aufmerksam macht, rechtfertige ich mich mit Sätzen à la „ja, das muss ich jetzt noch teilen, sonst…“. Ja, sonst geht die Welt unter und ich habe weniger Zugriffe.
Ich bewundere meinen Mann diesbezüglich sehr. Er starrt nämlich so gut wie nie auf sein Smartphone. Er braucht das einfach nicht, hat er mir mal erklärt.
Ich denke, es ist zunächst wichtig, es sich bewusst zu machen und dann kann man Gewohnheiten auch schrittweise ändern.
Wenn ich mich mit Leuten treffe, lasse ich mein Handy eigentlich immer in der Tasche, denn die kurze Zeit, die ich mit dem anderen verbringe, sollte wirklich dem anderen gelten. Alles andere empfinde ich als respektlos.
So, zu diesem Thema könnte ich jetzt stundenlang weiterschreiben, aber ich muss jetzt unseren Baum schmücken gehen. 🙂
Alles alles Liebe und frohe Weihnachten, lieber Horst!
Liebe Grüße
Julie
Horst Gassner
Dez 23, 2017Liebe Julie!
Wow, was für ein schöner und ausführlicher Kommentar! Man merkt, dass dich das Thema auch beschäftigt.
Und ja, auch ich kämpfe da immer wieder mit mir. Wie viel ist normal? Normal wird im Grunde ja als das angesehen, was die Mehrheit tut. Das ist blöd! Denn mittlerweile glotzt die Mehrheit viel zu oft auf ihr Handy.
Gefühlt bin ich viel zu viel online und schaue viel zu oft in die sozialen Kanäle, ob sich etwas getan hat. Das muss nicht sein. Aber was ist, wenn es mir einfach auch Spaß macht? Und genau damit hadere ich: mag ja sein, dass es Spaß macht, aber wäre es nicht viel besser, raus zu gehen und einen Gipfel zu erklimmen – also mich zu bewegen?
Was aber gar nicht geht – und da bin ich hart zu mir und anderen: wenn ich mich mit jemanden unterhalte, dann wird das Smartphone nicht beachtet. Punkt.
Du siehst, du bist nicht allein mit deinem Kampf 😉 .
Have fun und danke noch einmal für dieses ausführliche Feedback
Horst
Karo
Aug 30, 2017Hallo Horst, durch Zufall habe ich erst jetzt Deinen Beitrag beim Googlen gefunden. Sehr gut beobachtet und hautnah niedergeschrieben! Ich danke Dir – auch für die Erwähnung meines Blogs, der trotz des mehr als heißen Themas immer noch relativ unbekannt ist. 😉 Viele Grüße aus D nach Ö von Karo
Horst Gassner
Aug 30, 2017Servus Karo!
Danke, freut mich, wenn dir der Beitrag gefällt! Dein Blog ist wirklich auch sehr lesenswert in dem Zusammenhang – also die Erwähnung ist sehr gern geschehen!
Have fun
Horst
Igor (7 KONTINENTE)
Aug 22, 2017Horst, dein Blog entwickelt sich durch die sozialkritischen Themen zu meinem Favoriten! Immer wieder ärgere ich mich über andere, die mir in meiner Gesellschafft nicht die nötige Aufmerksamkeit geben. Und genau so erwische ich mich immer wieder, wie ich mich schnell mal ablenken lasse. Seit längerem ist bei mir nun alles auf stumm und damit meine ich auch kein Vibraalarm. Hoffe, dass trägt etwas mehr bei zu tiefgründigeren Gesprächen mit weniger Ablenkung.
Horst Gassner
Aug 23, 2017Servus Igor!
Danke für das Lob!
Mein Blog wird sich zwar vorrangig nach wie vor mit Wanderungen und Ausflügen und dem damit verbundenen Thema Fotografie beschäftigen, aber ich greife sehr gerne auch Themen auf, die mich bewegen und gut zum Thema passen.
So wie zum Beispiel der Beitrag über den Müll in den Bergen oder die stets gezückten Smartphones am Gipfel und am Weg dorthin. „Hans und Grete Guck in die Luft“ – man könnte oft fast schon Angst um die Leute bekommen.
Und ja – auch der schon viel gesellschaftsfähigere Vibraalarm lenkt von wirklich guten Gesprächen ab!
Danke für deinen Kommentar!
Have fun
Horst
Andreas
Jul 8, 2017Hallo Horst,
ein sehr wertvoller und wichtiger Beitrag. Nein, mein Handy hat nicht geklingelt, als ich gelesen habe. (-; Ich wohne in einer kleinen Senke auf dem Land und ich habe in meiner Wohnung keinen Handyempfang. (-; ja, sowas gibt es heute noch. Sooft mich das nervt, weil es manchmal das Leben etwas erschwert, sooft bin ich auch dankbar darüber. Ich bin mir nicht sicher, wie mein Leben sonst aussehen würde, zumndest tageweise, und ob ich dann das Handy nicht bewusst ausstellen würde. Es verleitet sehr dazu, von sich selbst abzulenken und auch nicht konzetriert etwas tun zu können. Ich kenne viele Menschen, bei denen ich das beobachte. Und ich glaube, es ist auch irgendwo eine Flucht vor einem selbst. Liebe Grüße!
Horst Gassner
Jul 8, 2017Servus Andreas!
Danke, freut mich, dass du mit dem Artikel etwas anfangen kannst!
Ja, man muss sich wirklich ständig unter Kontrolle halten, sonst hängt man einfach viel zu viel an den Geräten. Es geht mir auch so, dass ich mich immer wieder einmal erwische, zu oft auf das Teil zu glotzen und in allen möglichen sozialen Kanälen allen möglichen Kommentaren zu folgen und mich über das Geschreibsel zu ärgern. Teilweise wirklich sehr asozialem Geschreibsel. Schon schräg, denn im „wirklichen Leben“ stelle ich mich ja auch nicht neben wild pöbelnde Leute und diskutiere mit. Wobei man das hin-und wieder schon tun sollte 😉 .
„Flucht vor einem selbst“ – ja, denke ich auch. Lieber in FB dummen Kommentaren folgen, anstatt endlich den Dachboden aufzuräumen 😉 .
Have fun
Horst
Gisela
Jun 15, 2017Hi,
danke für diese Gedankenanstösse. Nein, mein Handy ist während des Lesens still geblieben. Das hat aber auch damit zu tun, dass ich viele Funktionen beim Handy deaktiviert habe. Es blinkt nicht mehr in bunten Farben und brummt nur noch leise, wenn ganz wichtige Leute (mein Mann und die Kinder) sich melden. Alle anderen müssen warten. Soweit bin ich schon mal.
Aber da ich heute wieder einen neuen Post in meinem Blog geschrieben habe, will ich nicht verschweigen, dass die Neugierde, wie oft bei FB drauf geklickt wird, mich nicht doch laufend zu den Devices verschlägt. Dank Deiner Anregung setze ich mich jetzt mit einem Magazin auf die Terrasse. Ganz analog und mit echtem Sonnenschein. Tschüß Gisela
Horst Gassner
Jun 15, 2017Servus Gisela!
Ja, wir Blogger sind besonders anfällig, wenn es darum geht, den Erfolg unserer Posts zu beobachten und ich muss mich auch immer am Riemen reißen, nicht regelmäßig reinzuschauen, um nicht vielleicht doch noch auch einen Tweet abzusetzen 😉 .
Und wenn du siehst, wie schnell ich antworte …
Ich hoffe, dein Handy macht jetzt nicht „*ping*“, weil eine Antwort auf deinen Kommentar gekommen ist.
Es freut mich aber, dich auf die Terrasse getrieben zu haben 🙂 .
Have fun
Horst